kurzgeschichte: Irgendwer

Wiener Duett

Wiener Duett Kurzgeschichte Robert Prazak Foto einer Bar von Oliver Frsh via unsplash

irgendwer

»… und dann noch diese wunderbare, wunderschöne Halskette aus herrlichem Katzengold, schmiegt sich an die Haut und …«

Mara schreckte auf und blickte sich um. Wer sprach da mit ihr? Nur langsam wurde sie wach und erkannte, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen war. Inzwischen lief eine dieser idiotischen Shopping-Sendungen. Ein gestriegelter Typ im Anzug hielt die zittrigen Hände einer vergreisten Blondine und schwafelte ununterbrochen. »… und das alles im Set mit einem wunderschönen Etui jetzt um nur 49 komma 99 Euro, Versand extra, aber beeilen Sie sich, meine Damen, oder vielleicht die Herren für die Damen? Es gibt nur noch 34, nein, jetzt nur noch 33 Stück …«

Mara suchte nach der Fernbedienung, sie lag vor ihr auf dem Boden und sie schaltete den Fernseher aus. Weshalb war sie aufgewacht? Manchmal schlief sie hier bis morgens. Sie hatte sich gestern abends vom Rollstuhl auf ihre Couch gehoben und lag doch recht bequem.

Da spürte sie ein Vibrieren unter sich. Mein Handy hat mich offenbar geweckt, dachte sie. Sie hatte es auf lautlos geschalten, weil gestern ihre Ex-Freundin mehrmals angerufen hatte, sie aber nicht mit ihr sprechen wollte. War sie es wieder gewesen?

Nein, es war eine andere Nummer. In diesem Moment kam eine Nachricht:

Mara, hilf mir. Ich bin hi

Wer war das? Mara war jetzt hellwach. Die Nummer kam ihr irgendwie bekannt vor, war aber nicht unter ihren Kontakten zu finden. Sie sah ihre letzten Anrufe durch. Ja, tatsächlich, da war die Nummer: Sie hatte sie vor zwei Wochen angerufen. Wer war das?

Mara zwang sich zur Konzentration, ihr Gehirn war noch im Halbschlaf. Was hatte sie vor zwei Wochen getan? Da fiel es ihr ein: Sie hatte eine ehemalige Schulkollegin getroffen. Helga. Was sollte die mysteriöse Nachricht?

Mara wählte die Nummer. Es läutete einmal, zweimal, dreimal, viermal – dann hörte sie ein Knacken und dumpfe Geräusche, aber es meldete sich niemand. Sie glaubte gedämpfte Stimmen zu hören. Die Verbindung wurde unterbrochen.

Helga war so alt wie Mara, sie hatten in der Schule nicht viel miteinander gesprochen, waren sich aber einige Male in Wien begegnet und einander sympathischer gewesen als damals. Mara hätte sich nicht an sie erinnert, doch vor zwei Wochen hatte Helga sie in ihrem Stammcafé angesprochen und sie hatten sich unterhalten, ohne ermüdenden Small Talk. Was machte Helga und weshalb würde sie Hilfe brauchen? Mara griff nach den Zigaretten auf dem schmalen Tischchen und zündete sich eine an. Sofort konnte sie klarer denken – auch daran, dass das kein gutes Zeichen war.

Helga arbeitete offenbar in einer Bar oder einem Nachtklub, irgendwas Dubioses in der Innenstadt. Edelstein oder so hieß das Lokal. Hatte sie von dort angerufen? Da vibrierte das Handy erneut, eine neue Nachricht.

Ruf mich an, aber ich kann nicht frei reden. H

Mara zögerte nicht.

»Ja?«

»Hallo Helga, hier ist Mara. Was ist los?«

»Hallo, Mama. Weshalb rufst du an? Du weißt doch, dass ich um die Zeit noch arbeite.«

»Um halb zwei? Aber ich verstehe: Du kannst nicht sprechen.«

»Genau, Mama. Was ist mit den Katzen?«

Helga schien schwer zu atmen, im Hintergrund vernahm Mara jetzt deutlicher Stimmen. Das könnte ein Mann sein oder mehrere Männer. Wurde Helga festgehalten?

Maras Gedanken rasten, sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.

»Hör zu, Helga. Antworte nur mit Ja oder Nein. Bleib ganz ruhig, ich helfe dir.«

Helga sagte nichts, die Stimmen im Hintergrund wurden kurz lauter. Mara glaubte das Klirren von Gläsern zu hören und dumpfes Lachen.

»Zuerst das Wichtigste. Wo bist du? Daheim?«

»Nein, Mama. Sie müssen jetzt nichts mehr fressen.«

»Okay. Also in der Arbeit. In dieser Bar oder was das ist.«

»Ja, genau.«

»Verdammt, ich habe keine Ahnung, wie das Lokal heißt. Kannst du es sagen oder geht das nicht?«

»Nein, nein.« Panik schwang in Helgas Stimme mit.

»Gut, kein Problem. Ich sage jetzt die Buchstaben von A bis Z auf und wenn ich den ersten Buchstaben des Lokals erreicht habe, sagst du irgendwas, kann auch Nein sein.«

Mara wartete kurz, Helga sagte nichts.

»Es geht los: A – B – C – D – E …«

»Genau!«, sagte Helga.

»Also E. Weiter: A – B …«

»Ja, Mama, du kannst jetzt schlafen gehen.« Helga schien den Hörer von sich zu halten und etwas zu jemanden anderen zu sagen. »Das ist nur meine Mutter, ich lege gleich auf.«

Eine Männerstimme sagte etwas, das wie »Aber rasch!« klang, aber Mara war sich nicht sicher.

»Also E und B. Weiter: A – B – C – D – E …-«

»Ja, okay.«

Mara machte weiter und nach drei weiteren Buchstaben hatte sie den Namen des Lokals: Ebenso. Sie hatte inzwischen ihren Rollstuhl herangezogen und hob sich nun von der Couch hinüber. Das Handy zwischen Ohr und Hals eingeklemmt, rollte sie mit hastigen Bewegungen in ihr kleines Büro, das vom Wohnzimmer wegging.

»Wirst du von Männern bedroht? In dem Lokal?«

»Ja und ja. Wie oft  soll ich das noch sagen, Mama?«

Mara klappte ihren Laptop auf und begann zu tippen. »Du bist also in dem Lokal – warte mal. Verdammt, es gibt zwei Ebenso-Bars in Wien.«

Wieder hörte Mara, wie Helga etwas zu jemanden Anderen sprach, diesmal war das Zittern ihrer Stimme deutlich zu hören.

»Ist es die im achten Bezirk?«

»Nein, ich muss jetzt auflegen.«

Wieder war Helga weg.

Mara tippt wie wild auf der Tastatur: Es dürfte also die Bar im ersten Bezirk sein. Auf Google mit 2,8 bewertet – nicht gerade einladend, auch die verschwommenen Bilder sahen nicht appetitlich aus. „Bar“ klang etwas hochtrabend für dieses seltsame Etablissement. Mara überlege nur einen kurzen Moment, dann wählte sie die Nummer.

Am nächsten Vormittag läutete es an der Tür, als sich Mara eben in der Küche einen Kaffee machte. Es war Helga. Sie beugte sich zu Mara hinunter und umarmte sie.

»Du erdrückst mich ja.« Mara waren solche Szenen peinlich.

Helga roch nach Rauch und ungewaschener Kleidung. Sie folgte Mara in ihr kleines Wohnzimmer.

»Wie geht es dir heute?«

Helga war aufs Sofa gesunken, sie wirkte kleiner als beim letzten Mal. Ihre graue Gesichtsfarbe passte zu ihrem Geruch. »Es geht schon.«

»Willst du einen Kaffee?«

»Nein, danke. Ich wollte mich nur bedanken, dann fahre ich heim, ich muss endlich schlafen. Ich war bis jetzt bei der Polizei.«

Dann erzählte sie von der Nacht: Sie arbeitete in der Bar, die sonst um 1 Uhr zusperrte. Doch gestern wollten einige Stammgäste länger bleiben, sie waren betrunken und wurden immer aufdringlicher. Sie wollten Helga nicht gehen lassen und verboten ihr auch, den Besitzer der Bar anzurufen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und hatte daher Mara kontaktiert.

»Und du dachtest, ich könnte hinrollen und die Typen verscheuchen?«

Helga rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Nein, aber du wusstest immer schon, was zu tun ist.« Sie rückte nach vorne und nahm Maras Hände. »Du warst immer die Stärkste.«

»Naja, ich weiß nicht. Wenn man mich so ansieht …«, sagte Mara, aber sie lächelte.

Helga nickte nur und sank wieder zurück.

»Ich hole dir was zu trinken.«

Als Mara mit einem Glas Wasser zurückkam, war Helga eingeschlafen. Sie betrachte die Gleichaltrige, die älter aussah; ihr Gesicht wirkte fahl und eingefall. Und doch kam sie ihr in diesem Moment wieder näher; sie erinnerte sich an die Helga der Schulzeit, schon damals ein schmächtiges Mädchen, zurückhaltend. Und dann erinnerte sich Mara an eine Szene in der Schule, als Mara mit ihrem Rollstuhl im Winter auf der schmalen Straße zum Schulgebäude nicht weitergekommen war und einige ältere Burschen sie ausgelacht hatten. Verzweifelt hatte sie versucht, weiterzukommen, immer angestrengter, verschwitzter, doch es war ihr nicht gelungen. Und keine ihrer angeblichen Freundinnen hatte ihr geholfen, weil sich niemand gegen die Menge stellen wollte. Und dann war plötzlich Helga aufgetaucht, hatte ihren Rollstuhl angeschoben und die Schmähungen und Schneebälle ignoriert, die die beiden getroffen hatten. Mara sah jetzt das Gesicht der Helga von damals vor sich und wie sie sich zu Mara hinuntergebeugt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie versucht hatte, ihre Tränen wegzuwischen und wie Helga nur gesagt hatte: »Irgendwer ist immer da.«

Mara sah Helga an und sie wusste, dass sie damals recht gehabt hatte. Sie drehte sich um, um sich in der Küche einen Kaffee zu machen.