Kurzgeschichte: Familienbande

Wiener Duett

Familienbande

Freitag

Vitus war schlecht gelaunt. Gut, das war nichts Ungewöhnliches, er war meistens schlecht gelaunt. Zumindest nach außen, innerlich war er eine wahre Frohnatur. Manchmal. Heute war er aber besonders schlecht gelaunt.

Er sollte um 7 Uhr einen Mann treffen. 7 Uhr! Bis vor wenigen Monaten wäre das beinahe schon seine Mittagspause gewesen. Als er noch als Friedhofsgärtner gearbeitet hatte, wäre 7 Uhr eine christliche Zeit gewesen. Doch seit er sich der – bisher eher vagen – Idee widmete, gemeinsam mit Mara als Spezialist für verschwundene Personen aufzutreten, konnte er morgens länger schlafen.

Er betrat das Kaffeehaus am Wiener Ring und seine Laune sank nochmals um einige Grad: Eine Melange aus aufgeregtem Geschnatter, wuselnden Körpern und einer Geruchsmischung von Kaffee und Frühstück schwappte ihm entgegen. Er konnte in der Früh, vor dem ersten Espresso, nur eines ertragen: Nichts.

Sein Handy vibrierte. „Ich sitze gans hinten links bein Fenster“ lautete die Nachricht. Sein Auftraggeber hielt wohl weder von Rechtschreibung noch von Autokorrektur viel.

Vitus presste sich zwischen den eng gestellten Tischchen vorbei, wobei er um ein Haar ein paar Tassen und Gläser umgestoßen hätte. Er sah einen Glatzkopf mit überdimensionaler Brille, der seinen schmächtigen Körper in ein noch schmächtigeres Hemd gepresst hatte, und »gans hinten links« saß. Tatsächlich erinnerte er Vitus mit seinem schmalen Hals und dem bleichen Gesicht an eine Gans.

»Herr Wanke?«, fragte Vitus und der andere nickte nur.

Vitus zog den Bauch ein (er war fest überzeugt gewesen, er hätte abgenommen, offenbar eine Fehleinschätzung) und zwängte sich zwischen Marmortisch und Sitzbank.

»Danke, dass ein Termin so rasch geklappt hat«, sagte Wanke; seine nervösen Augen sprangen zwischen Vitus, Fenster und Tischplatte hin und her. Gleich würde er zu schnattern beginnen, dachte Vitus und musste ein Lachen unterdrücken. »Kein Problem«, murrte er nur und dachte an die Uhrzeit. 7 Uhr, verdammt!

Wanke saß aufrecht, als hätte er einen Besen verschluckt, wirkte aber fahrig.

»Ich muss dann leider bald weg, ich habe um 8.30 ein Meeting.«

Vitus sagte nichts, sondern deutete dem Kellner, der ihn ignorierte. Typisch.

»Es geht um meine Frau und meine Tochter«, begann Wanke und rührte mit eckigen Bewegungen in der Tasse, in der eine grüne Flüssigkeit den Geruch einer unreifen Pflanze verströmte.

Vitus fischte sein Notizbuch aus seiner Jacke und legte es vor sich auf den Tisch.

20 Minuten später hatte er die wichtigsten Fakten notiert:

  • Hannes Wanke, 42, Prokurist einer Immobilienfirma
  • Frau Gerlinde Wanke, 36, Tochter Klara, 7, seit 3 Tagen verschwunden
  • Gerlinde – früher Teilzeit bei PR-Firma, derzeit kein Job
  • Klara Volksschule, keine Hobbys (?), wenig Freunde, etwas auffällig
  • Di abends beide nicht daheim, keine Nachricht, telefonisch nicht erreichbar
  • Polizei ratlos, bisher untätig, soll eine Woche warten
  • Kleidung, Koffer, etc fehlen nicht
  • Handy Frau fehlt / Anrufe, SMS etc unbeantwortet
  • Eltern Klara bzw. Hannes wissen nichts, Freunde auch nicht
  • Keine Eheprobleme, seit 8 Jahren verheiratet
  • Wohnung in 1010, gehört ihm

Vitus, der noch immer keinen Kaffee bekommen hatte, blickte vom Notizbuch auf.

»Was glauben Sie, was ist passiert?«

Wanke blickte aus dem Fenster.

»Ich habe keine Ahnung. Es passt alles, wir streiten nie. Unserer Tochter geht es gut. Wir wollten nächste Woche auf Urlaub fahren, das hatte ich schon lange geplant.«

Er blickte auf die Uhr. »Denken Sie, Sie können etwas tun? Ich will sie zurückhaben.«

Vitus nickte nur.

»Ich muss jetzt wirklich los.« Wanke blickte sich um und rief: »Herr Ober, zahlen!«

Vitus bemerkte, dass sich eine kleine Ader auf seiner Stirn bildete. Wanke rief nochmals, diesmal war es schon fast ein Schreien. »Herr Ober!«

Die Ader auf seiner Stirn war größer geworden.

Samstag

Willkommen!, stand auf der Fußmatte. Vitus hörte Schritte näherkommen, aber nicht von drinnen.

»Sie sind schon da«, sagte Wanke, der die Treppe hinaufkam, in der Hand ein Einkaufssackerl.

»Wir hatten 9 Uhr ausgemacht«, brummte Vitus.

Wanke schloss die Tür auf und ging voran. »Ich räume das nur weg und komme gleich. Das Wohnzimmer ist rechts.«

»Kann ich mich umsehen?«, fragte Vitus.

Wanke blieb stehen. »Wozu?«

»Ich will ein Gefühl für die Verschwundenen bekommen.«

»Dann tun Sie das. Aber es ist nicht zusammengeräumt, ich hatte diese Woche viel zu tun und Gerlinde ist ja verschwunden.«

Vitus ging ins Wohnzimmer, in dem ein gewaltiges Sofa und ein Klavier standen. Nicht zusammengeräumt? Wanke meinte wohl die einsame Zeitschrift, die unter dem marmornen Couchtisch lag. Sonst sah das Zimmer aus, wie Zimmer in Wohnmagazinen aussahen, bei denen sich Vitus immer dachte, wer hier wohl wohnen sollte, vom Wohlfühlen ganz abgesehen. Und wenn Wanke die Miniwohnung von Vitus gesehen hätte, hätte er wohl einen Schlaganfall bekommen.

Die anderen Zimmer waren eine Blaupause: groß, sauber, teuer, geschmacklos eingerichtet. Sogar das Kinderzimmer sah unbewohnt aus, keine Bilder oder Zeichnungen an den Wänden, in den Kästen eine unnatürliche Ordnung.

Vitus ging in die Küche, er hörte Wanke in einem anderen Zimmer telefonieren oder eher schreien. Der Mann schien Teilzeit-Choleriker zu sein.

Der Kühlschrank reicht beinahe zur Decke und lächelte Vitus freundlich an. Als er hineinsehen wollte, ließ sich die Tür nicht öffnen. Am Griff war ein kleines Vorhängeschloss befestigt. Als Vitus daran rüttelte, hörte er Wanke hinter sich sagen. »Ich musste das absperren, weil meine Tochter ständig etwas zu essen wollte. Das wäre nicht gesund.«

»Und Ihre Frau hat einen Schlüssel dafür?«

»Nein, den habe ich. Ich stelle morgens die Dinge raus, die die beiden tagsüber brauchen.«

»Und das ist gesund?«

»Was meinen Sie?«

»Nichts.«

Wanke zögerte. »Brauchen Sie noch was? Ich muss langsam ins Büro, dort klappt ohne mich gar nichts.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Vitus. »Nur zwei Fragen: Sie meinten letztens, Ihre Tochter wäre auffällig und anders als andere Kinder. Was meinten Sie?«

»Sie tut sich schwer mit anderen Kindern und braucht immer fixe Abläufe. Die Ärzte nennen das Störungen aus dem Autismus-Spektrum oder so.«

»Und wie nennen sie es?«

»Sie ist anders und braucht viel Aufmerksamkeit.« Er zögerte. »Als Berufstätiger tue ich mir schwer, daher bleibt ihre Mutter derzeit auch daheim bei ihr.«

Vitus betrachtete wieder das Schloss am Kühlschrank. »Wann waren Sie zuletzt auf Urlaub?«

»Wie bitte? Was hat das …«

»Ist ja nicht so schwer zu beantworten: Wann waren Sie zuletzt auf Urlaub?«

Wanke verschränkte die Arme. »Da muss ich nachdenken: Voriges Jahr waren wir eine Woche auf einem Bauernhof, in einer Ferienwohnung.«

»Und wie war das?«

»Schön. Also … ja, eigentlich schön.«

»Und uneigentlich?«

»Wie? Naja, Klara wollte dauernd zu den Tieren, aber das wir mir zu gefährlich. Es war auch nicht so sauber, wie ich … also wie wir das gewohnt sind. Wir sind dann zwei Tage früher heimgefahren.«

»Gut, ich kenne mich aus. Ich melde mich spätestens morgen.«

»Aber was denken Sie? Wo sind die beiden?,« rief Wanke ihm hinterher, aber Vitus antwortete nicht. Beim Hinausgehen verschob er die Türmatte.

In seinem Kaffeehaus bestellte Vitus ein spätes Frühstück. Er hatte ja quasi noch nichts gegessen, weil die halbvertrocknete Semmel, die er beim Weggehen in der Früh im Lift verdrückt hatte, zählte nicht.

Er vermisste Mara, die seit einer Woche in Kroatien war, irgendwelche Freunde besuchen. Nächste Woche sollten sie ein Büro besichtigen, das ebenerdig lag und daher für Mara mit ihrem Rollstuhl sehr gut geeignet war. Vitus wählte ihre Nummer, doch es meldete sich nur die Mailbox.

»Ja, also … ich hoffe, es geht dir gut bei deinen Freunden oder was die sind. Melde dich mal bei Gelegenheit, ich wollte dir von diesem Fall der verschwundenen Mutter und Tochter erzählen.«

Hatte er tatsächlich der »Fall« gesagt? Er war doch kein Polizist. Aber wie sollte er das sonst nennen? Auftrag? Suche?

Er schob den Teller mit dem üppig belegten Brot und die Kaffeetasse beiseite und legte sein Notizbuch auf den Tisch, blätterte aber nicht darin. Er hatte ohnehin alles im Kopf, was er brauchte, um nachzudenken.

Wo könnten die beiden sein? Es deutete nichts auf eine Entführung hin, Wanke war zwar reich, aber nicht stinkreich. Es gab keine Verbindungen in die Unterwelt, die Eltern und Verwandten waren unauffällig, Freunde hatte die Familie kaum. Außer zu Elternabenden und Firmenfeiern gingen sie nie aus, kein Kino, kein Theater. War die Tochter psychisch so auffällig, dass sie selbst auch nie Freundinnen aus der Schule einlud und nie eingeladen wurde? Wanke hatte das zumindest so gesagt. Andererseits waren ihre Schulnoten gut, wenn auch in der letzten Zeit schwächer werdend.

»Ihr Handy vibriert«, sagte der Kellner, der neben ihm stand. Vitus hatte es gar nicht bemerkt, so sehr war in Gedanken versunken.

»Danke. Und noch einen großen Braunen.«

Das Handy vibrierte bereits dem Rand des Tisches entgegen.

»Ja, bitte?«

Es war Mara. »Habe ich recht gehört? Du vermisst mich schon?«

»Hatte ich nicht gesagt.«

»Aber gemeint. Was tut sich so?«

»Wenig. Ich war heute in der Wohnung von diesem Wanke, für den wir Frau und Tochter finden sollen.«

»Und?«

»Komische Familie. Oder zumindest komischer Mann. Da sind Schlösser am Kühlschrank und die Wohnung sieht aus, als würde gar niemand drin wohnen.«

»Klingt nach einem Kontrollfreak.«

»Was meinst du?«

»Der will die Kontrolle über das Leben seiner Familie haben. Was arbeitet der Typ?«

»Prokurist bei so einer Immobilienfirma, die machen was mit Zinshäusern.«

»Und wie ist er so?«

»Unauffällig, aber manchmal cholerisch.«

»Kann ich irgendwie helfen? Das Internet ist hier ziemlich scheiße, aber wenn du …«

Vitus unterbrach sie: »Nein, nicht nötig. Du genieß einfach deine Heimat. Nächste Woche bist du eh wieder da.«

»Meine Heimat ist Wien. Aber ja: Nächste Woche bin ich wieder da.«

Sonntag

Vitus drückte die Klingel, aber nichts tat sich. Er wartete kurz und klopfte dann an die Türe, die prompt aufgerissen wurde. Ein junger Mann, der außer seiner Unterhose nur einen Kopfhörer um den Hals trug, starrte ihn an.

»Oh … Entschuldigung, ich dachte, das wäre mein Freund.« Er machte einen Schritt zurück. »Was wollen Sie?«

»Ich bin Vitus Müller, Privatdetektiv. Ihr Nachbar, Herr Wanke, hat mich gebeten, nach seiner Frau und seiner Tochter zu suchen, die offenbar verschwunden sind.«

Vitus hatte sich nach dem Gespräch mit Mara entschlossen, zuerst mit den Nachbarn von Wanke zu reden und dann Berufskollegen von Wanke zu suchen.

»Welcher Wanke?«

»Der Mann, der neben ihnen wohnt.«

»Ach, der. Wusste gar nicht, dass der Wanke heißt.«

»Sie kennen ihn also nicht näher.«

»Nein, zum Glück.«

»Weshalb zum Glück?«

»Komischer Typ. Und er schreit ständig mit seiner Familie.«

Vitus blickte zur Tür von Wanke hinüber. »Das hören Sie?«

»Ist nicht zu überhören. Völlig cholerisch, der Alte.«

Wenn er Wanke als Alten bezeichnete, wie würde er dann Vitus nennen, der sicher zehn oder fünfzehn Jahre älter war? »Schreit er oft herum?«, fragte Vitus.

»Nein, aber wenn, dann ordentlich. Scheint wohl nicht so gut zu laufen, die Ehe.« Er zuckte mit den Achseln.

»Und haben Sie mal mit seiner Frau gesprochen?«

»Nur das Übliche, wenn man sich mal am Gang trifft: Guten Tag, auf Wiedersehen. Scheint nett zu sein. Aber irgendwie traurig.«

»Traurig?«

»Ja, als würde sie ihr Leben hassen.«

Vitus war nach Hause gefahren, nachdem er noch zwei andere Nachbarn von Wanke befragt hatte. Offenbar war es üblich, dass es alle paar Tage zu Streitereien kam; zumindest dürfte Wanke geschrien haben. Eine glückliche Familie schien das nicht zu sein, auch wenn Wanke das so dargestellt hatte. Aber hatte das was mit dem Verschwinden zu tun?

Vitus saß auf seiner Couch und starrte ins Leere, die angefangene Pizzaschnitte vor ihm wurde kalt, das Cola dazu warm. Könnte Wanke selbst etwas damit zu tun haben? In Österreich waren Morde an Ehefrauen und Partnerinnen nichts Ungewöhnliches, das Land lag bei diesen Statistiken weit vorne: Wenn sich Frauen trennen wollten, konnten ihre Männer oder Freunde das oft nicht akzeptieren.

Aber weshalb hätte Wanke dann Vitus beauftragt, seine Frau und sein Kind zu suchen? Wollte er nur den Anschein wahren?

Vitus dachte an Mara, die wohl gerade irgendwo eine Grillplatte vor sich stehen hatte oder mit einem Kaffee und ihren Zigaretten in einem Strandcafé saß. Sie hätte sicher mehr über Gerlinde Wanke herausgefunden.

Vitus schnaufte und begann, seinen Laptop zu suchen. Wo hatte er den nur wieder hingelegt?

»Herr Müller?« Die Frau tippte Vitus auf die Schulter, der in die Zeitung vertieft war.

»Ja. Sind Sie Frau Weltner?«

Sie nickte nur und setzte sich auf die Parkbank neben Vitus, der sie von der Seite betrachtete: Unter einer Kappe ragten dunkelblonde Haare hervor, das kantige Gesicht war von Falten überzogen. Vitus schätzte sie auf Mitte 50 oder Anfang 60, sie wirkte sportlich. »Ich habe nicht lange Zeit.«

»Ich halte mich kurz. Es geht um Gerlinde.«

»Hatten Sie am Telefon gesagt. Wie sind Sie auf mich gekommen?«

»Ich habe gesehen, dass Sie auf Facebook befreundet sind und offenbar einige der wenigen sind, mit denen sie über lange Zeit Kontakt hat. Sie waren Ihre Lehrerin in der Volksschule, richtig?«

Weltner lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Sie holte eine Zigarettenpackung aus ihrer Manteltasche. »Wollen Sie auch eine?«

»Danke, ich rauche nicht mehr.«

»Ist eh besser.« Sie zündete die Zigarette an und machte einen tiefen Zug. Dann begann sie zu erzählen: Gerlinde war ihre Schülerin gewesen, ein schüchternes, eifriges Mädchen. Sie waren nach der Schulzeit in Kontakt geblieben, denn Weltner hatte immer einen guten Draht zu ihr gehabt. Sie hatten sich alle paar Wochen getroffen, aber nach ihrer Heirat war der Kontakt abgebrochen. Sie hatten nur noch ein paar Mal telefoniert.

»Weshalb?«, fragte Vitus.

»Ich weiß es nicht.« Sie wich seinem Blick aus. »Könnte an ihrem Mann gelegen haben.«

»Oder sie hatte keine Zeit mehr, wegen ihres Kindes.«

»Kann sein, aber es war nicht nur das.« Sie zögerte.

Vitus wartete. Wenn sie es nicht erzählen wollte, würde sie es nicht erzählen.

»Bleibt das unter uns?«

»Kann ich nicht versprechen. Wenn es um etwas Strafbares geht, kann ich es nicht für mich behalten.«

Sie zögerte und setzte sich dann aufrecht hin. »Ganz genau weiß ich es nicht, aber ich hatte das Gefühl, sie steht unter Druck. Einmal hat sie gesagt: Es fehlt mir die Luft zum Atmen.«

»Wegen ihres Mannes?«

»Ja.«

Vitus dachte an den unscheinbar wirkenden Wanke, der zugleich zurückhaltend und aufbrausend wirkte. »Wurde sie auch körperlich bedroht?«

»Das glaube ich nicht. Nein, eher nicht. Es war wohl vor allem psychischer Druck.«

»In welcher Form?«

»Kontrolle. Totale Kontrolle.«

Vitus dachte an die Schlösser am Kühlschrank und die steril aufgeräumten Zimmer.

»Und wie haben Sie reagiert?«

»Was sollte ich denn tun? Sie wollte sich nicht helfen lassen. Zumindest am Anfang nicht.«

»Später schon?«

Sie sagte nichts.

Sonntag

Diesmal war Vitus vor seinem Auftraggeber in dem Kaffeehaus und hatte einen Sitzplatz gleich neben dem Eingang ausgewählt – da brauchte er sich nicht zwischen den Tischen vorbeizuzwängen und hatte außerdem mehr Platz. Eben brachte der Kellner seinen Espresso, als Wanke hereinstürmte. Ohne sich zu setzen, fragte er: »Haben Sie sie gefunden? Wo sind sie?«

Vitus deutete auf den Stuhl neben sich. »Setzen Sie sich doch.«

Wanke schnaufte nur, setzte sich aber nieder. Den Kellner scheuchte er mit einer Handbewegung fort. »Später!«

Vitus betrachtete ihn: Er wirkte auf den ersten Blick nervös, aber zugleich seltsam beherrscht.

Wanke legte seine Hände auf den Tisch, zu Fäusten geballt. »Sagen Sie doch endlich, was passiert ist.«

Vitus lehnte sich zurück. »Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau und Ihr Kind wieder da wären.«

Wanke sah ihn verblüfft an. »Was ist denn das für eine dumme Frage.«

»Es gibt keine dummen Fragen.«

»Na was wohl? Wir würden unser Leben wie davor führen.«

»Wären Sie nicht zornig oder enttäuscht?«

»Was? Was reden Sie da? Wissen Sie nun, wo Sie sind?«

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie enttäuscht wären?«

»Wenn Sie wieder da wären? Natürlich nicht. Ich habe Sie doch beauftragt, sie zu suchen!«

Vitus sagte nichts. Er spürte eine Abneigung gegen diesen Mann, eine kalte Abneigung. Er konnte nicht genau sagen, weshalb. Es lag wohl daran, dass Wanke nicht das war, das er nach außen vorgab zu sein.

Das Handy von Vitus, das neben dem Espresso lag, vibrierte. Vitus nahm es an sich und blickte darauf. Es war eine Nachricht.

Sie bleibt

Wanke schaute ihn fragend an. »Haben Sie eine Nachricht von ihr? Wissen Sie, wo sie ist?« Er war auf dem Stuhl ganz nach vorne gerückt und Vitus merkte, dass sein rechtes Auge zuckte.

»Nein, das war etwas anderes.«

Wanke ballte die Fäuste fester zusammen. »Sie haben also nichts erreicht?«

Vitus nahm einen Schluck von seinem Kaffee, stellte die Tasse langsam zurück und blickte sich dann nach dem Kellner um, dem er zurief: »Zahlen, bitte!«

Das Zucken in Wankes Auge wurde stärker. »Hören Sie mir überhaupt zu? Sie sollen mir sagen, wo die beiden sind.« Er war näher an den Tisch gerückt.

Vitus beachtete ihn nicht. Der Kellner kam, Vitus zahlte und erhob sich langsam.

Wanke zögerte einen Moment, sprang dann auf, wobei er den Tisch umstieß. »Sie Verrückter!« Er griff nach Vitus, der ruhig stehen blieb, und packte ihn vorne an dessen Jacke. Er war ein anderer geworden, innerhalb weniger Sekunden, dachte Vitus. Ein Anderer und doch er selbst.

Vitus sah ihn nur an und flüsterte: »Lass mich los.«

Wanke, dessen Augen nun beide unkontrolliert zuckten, hob kurz seinen Arm, ließ ihn aber wieder fallen. Im Kaffeehaus war es ruhig geworden, die anderen Gäste beobachteten die Szene.

Wanke ließ Vitus los und hastete an ihm vorbei zum Ausgang. Vitus hob den Tisch auf und sagte zum Kellner: »Tut mir leid.« Der zuckte nur mit den Schultern.

Montag

Am nächsten Tag war es Vitus, der mit den Schultern zuckte, auch wenn das niemand sehen konnte. »Nein, es war nicht viel los«, sagte er zu Mara am Telefon.

Sie hatte ihn angerufen, im Hintergrund glaubte Vitus das Kreischen von Möwen zu hören – oder war das nur Einbildung? Sie würde noch ein, zwei Tage länger bleiben, sie hatte das Meer so vermisst. Sie klang fröhlich, beinahe aufgekratzt.

»Und was war mit diesem Wanke und seiner Frau und dem Kind? Hast du was herausgefunden?«

»Ja, aber nein.«

»Was? Was soll das heißen?«

»Ich habe was herausgefunden, aber es nichts rausgekommen. Sie sind weiter verschwunden. Erzähle ich dir ein anderes Mal. Lass dir den Urlaub nicht verderben.«

»Was heißt verderben? Mit dir zu reden hat mir ohnehin die Laune verdorben. Alter Griesgram!« Sie lachte und legte auf.

Vitus schmunzelte und lehnte sich auf seiner Couch zurück. Es war wahr: Er hatte herausgefunden, wo die Frau und die Tochter des Typen waren. Aber er hatte Wanke gegenüber nichts gesagt. Er schloss die Augen, er war müde, schrecklich müde. Er dachte an das Telefonat, das er gestern früh geführt hatte.

»Sind Sie Vitus Müller?«

»Wer will das wissen?«

»Sie suchen nach Frau Wanke und ihrer Tochter.«

»Wer will das wissen?«

»Ich will Ihnen etwas erzählen, Sie können es glauben oder nicht. Und Sie können selbst entscheiden, was Sie damit machen.«

»Dann bin ich aber gespannt.«

Er setzte sich auf und sah auf die beiden Ausdrucke vor sich: Ein Artikel aus einer Zeitung und ein Beitrag in einem Internet-Forum.

Gewalt gegen Frauen: Strategie fehlt

In einem heute veröffentlichten Bericht zeigt der Rechnungshof Verbesserungsmöglichkeiten zum effektiveren Schutz für von Gewalt betroffene Frauen auf. Es gäbe zwar niederschwellige Beratung für Frauen über nahezu das gesamte Bundesgebiet und auch die rund um die Uhr verfügbare Frauenhelpline gegen Gewalt sei positiv. Aber es gibt in Österreich keine langfristig angelegte Strategie zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Die Prüferinnen und Prüfer des Rechnungshofes empfehlen, Gewaltambulanzen einzurichten. Auch bei Gefährdungseinschätzungen sowie bei der Fortbildung von Richterinnen und Richtern gibt es Verbesserungsbedarf. Außerdem fehlen Kriterien für die Beurteilung von Hochrisikofällen und für die Abwicklung von Fallkonferenzen fehlen.

UserIn Ano1976: Re: Gewalt gegen Frauen. Hilfe beim Abtauchen

Habt Ihr schon mal von dieser Organisation gehört, die bedrohten Frauen beim Verschwinden hilft? Also es geht darum, dass man sich von seinem gewalttätigen Ex-Partner oder Partner oder Ehemann oft nur schützen kann, indem man nicht mehr zu finden ist. Ich habe jetzt von einer Organisation gehört, die Frauen in Not hilft, zu verschwinden – sozusagen ein neues Leben zu beginnen. Es soll sogar möglich sein, dass man seine Kinder mitnimmt. Bin nicht sicher, ob das legal ist. Aber es könnte für viele der letzte Ausweg sein …